Die NSA-Enthüllungen sollten nicht als Skandal, sondern als Ausdruck unterschiedlicher deutscher und amerikanischer Traditionen und Kulturen im Bereich der Nachrichtendienste gesehen werden, argumentiert Karsten D. Voigt, der ehemalige Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit.
In den USA spielt die Sicherheitsvorsorge eine wesentlich größere Rolle als in Deutschland. Deshalb werden deutsche Einwände in den USA nur dann mehr Gehör finden, wenn zugleich Antworten auf die in den USA vorherrschenden sicherheitspolitischen Fragen geliefert werden. Ein Abzug aller geheimdienstlichen Installationen der USA aus Deutschland, wie es einige Politiker fordern, würde den deutschen Interessen mehr schaden als nutzen. Einem formellen Gewinn an Souveränität stünde ein faktischer Verlust an Einfluss gegenüber.
Die deutsche und europäische Politik und Wirtschaft, sollten sich vor Spionage und Datenmissbrauch besser schützen. Dasselbe gilt für jeden einzelnen Bürger. Denn selbst wenn sich unsere amerikanischen Partner an ein mögliches No-Spy-Abkommen halten sollten, so bleibt die Gefahr durch andere Staaten oder durch kriminelle Aktivitäten bestehen. Auch um ihnen begegnen zu können, benötigen wir weiterhin eine enge transatlantische Zusammenarbeit der Nachrichtendienste.
Angela Merkel war empört darüber, dass amerikanische Geheimdienste ihr Telefon abgehört haben. Diese Empörung verstehe ich. Die Bundeskanzlerin schien aber auch überrascht zu sein. Dann wäre sie naiv. Sie hätte nur führende Beamte zu fragen brauchen: Die meisten von denen, die an führender Stelle mit der amerikanischen Regierung verhandeln, rechneten damit, Ziel der amerikanischen Spionage zu sein. Und wenn nicht die amerikanischen Dienste spionieren würden, dann auf jeden Fall die Chinesen und Russen ‑ und wahrscheinlich auch der eine oder andere Partner aus der Europäischen Union.
Bevor ich 1976 zum ersten Mal in den Bundestag gewählt wurde, lud mich das State Department gemeinsam mit anderen Nachwuchspolitikern zu einer vierwöchigen Rundreise durch die USA ein. Ein Programmpunkt war ein Abendessen in dem renommierten außenpolitischen Think Tank CSIS. Der Gastgeber war ein sympathischer älterer Herr namens Cline. Als ich mich vorstellte, erwiderte er: „Sie brauchen sich nicht vorzustellen. Ich kenne Sie. Als Sie Bundesvorsitzender der Jusos waren, war ich der Repräsentant des CIA in Deutschland.“
Damals erschrak ich. Später habe ich nüchtern zur Kenntnis genommen, dass die außen- und sicherheitspolitische Elite der USA eine positivere Grundeinstellung zu „ihren“ Nachrichtendiensten hat als viele ihrer deutschen politischen Partner. Wenn Kongressabgeordnete die Geheimdienste kritisierten, dann meistens wegen mangelnder Effektivität und weniger im Hinblick auf Zweifel an deren Legitimität – höchstens wenn Eingriffe in die Freiheitsrechte amerikanischer Staatsbürger befürchtet wurden. Nun haben einige Kongressabgeordnete die NSA für die Bespitzelung der Bundeskanzlerin kritisiert. Sie tun dies, weil sie in einer pragmatischen Abwägung zu dem Schluss gekommen sind, dass der so entstandene politische Schaden schwerer wiegt als die durch die Aktion beschafften zusätzlichen Informationen. Die Kritik bedeutet nicht, dass die Freiheitsrechte der Bevölkerung verbündeter Staaten in ihren Augen den gleichen Stellenwert haben wie die Rechte der Amerikaner.